Wolf Messing schrieb in der Sowjetunion als Gedankenleser Geschichte. Wer bitte ist Wolf Messing, Gedankenleser? Die meisten dürften mit Gedankenlesen vielleicht Uri Geller oder Deren Brown verbinden. Doch eine Aura des übernatürlichen und Unheimlichen umgibt seinen Namen bis heute: Wolf Messing war als Hypnotiseur und Gedankenleser ein gefeierter Bühnenstar der Nachkriegssowjetunion. Die Russen sind selbst 32 Jahre nach seinem Tod noch immer fasziniert von den geheimnisvollen Fähigkeiten jenes Mannes, den sie auch als deutschen Hellseher in Stalins Diensten kennen. MDZ-Autor Andreas Illmer ist den Legenden nachgegangen, die sich um die Karriere Messings ranken, und hat mit Zeitzeugen gesprochen.

In Deutschland ist Wolf Messing trotz der wahren Wunderdinge, die er vollbracht haben soll, fast gänzlich unbekannt. Das mag damit zusammenhängen, dass der vermeintliche Deutsche, für den ihn die Russen halten, in Wirklichkeit polnischer Jude war. Und so verhält es sich mit zahlreichen scheinbaren Gewissheiten, die über den charismatischen Magier im Umlauf sind. Das kollektive Gedächtnis stützt sich häufig auf Überlieferungen ohne Gewähr. Einerseits gibt es in Russland kaum Menschen der mittleren oder älteren Generation, denen der Name Messing kein Begriff wäre. Vielen fallen spontan Anekdoten zu ihm ein, andere haben die Bühnenshows sogar mit eigenen Augen gesehen. Gleichzeitig ist die historische Person hinter den Geschichten und Legenden jedoch nur sehr schwer zu greifen, wozu Messing mit geschickter Selbstinszenierung beigetragen hat. Stalin, Freud, Einstein und Ghandi will er gekannt, sie alle mit beeindruckenden Privatvorstellungen überzeugt haben. Da es so gut wie keine verlässlichen Quellen gibt, ist die Grenze zwischen Mythos und Realität in den seltensten Fällen auszumachen. Oft scheint sie bewusst verwischt zu sein.

1899 im polnischen Gora Kalvaria in der Nähe Warschaus geboren, hatte Messing die Laufbahn eines Rabbi einschlagen sollen. Doch mit zwölf Jahren ergriff er nach eigener Darstellung die Flucht aus dem jüdischen Schtetl, um sich nach Berlin durchzuschlagen. Im Zug wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er die Gedanken anderer Menschen lesen und beeinflussen kann. Ohne Fahrkarte unterwegs, hielt er dem Schaffner ein leeres Stück Papier hin und hoffte inständig, der werde den Schwindel nicht bemerken. Und siehe da: Der Kontrolleur stempelte den Zettel kommentarlos ab, die Reise konnte weitergehen. Auf seine scheinbar telepathischen Kräfte gestoßen, begann Messing in Berlin mit ersten Auftritten. Anfangs war er – durch Selbsthypnose in eine Art Leichenstarre versetzt – im Panoptikum zu bewundern, später engagierte ihn das Wintergarten Varieté. Als hellsehender Detektiv angekündigt, ließ er das Publikum Gegenstände verstecken und spürte sie anschließend durch „Gedankenlesen“ auf.

Der Erfolg war so groß, dass Messing – mittlerweile mit eigenem Manager – bald in Wien, Paris und in anderen europäischen Städten Vorstellungen gab. Eine davon wurde im Zirkus Busch in Wien angeblich von Sigmund Freud besucht. Messing selbst verbreitete, dass ihn Freud und der spätere Nobelpreisträger Albert Einstein gemeinsam in Wien eingeladen hätten. Er sei ins Nebenzimmer geschickt worden, und Freud habe ihn in Gedanken aufgefordert, mit einer Pinzette drei Haare aus Einsteins Bart zu zupfen. Weder Einstein noch Freud erwähnen in ihren Briefen und Schriften jedoch irgendeinen Bezug zu Messing. Zudem ist nirgendwo belegt, dass sich der Physiker und der Psychologe damals überhaupt in Wien begegnet sind. Messing geht indes noch weiter: In Indien will er in jenen Jahren sogar Mahatma Gandhi getroffen haben. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hielt er sich in seinem Heimatland Polen auf und floh von dort in Richtung Osten.

Um die Ankunft in Moskau und das Treffen mit Stalin rankt sich erneut eine Vielzahl von Gerüchten – mit einem „Bankraub“ auf Stalins Anweisung hin als Krönung. Die 83-jährige Moskauerin Soja Petrowna kennt die Geschichte in- und auswendig: „Stalin hatte von Messing gehört und wollte wissen, was denn dran sei an diesem Hellseher, der von Hitler gesucht wird. Er lud ihn ein und stellte ihm zwei Testaufgaben. Als Erstes sollte Messing den Kreml an allen Wachen vorbei verlassen – eigentlich eine Unmöglichkeit zu dieser Zeit. Für Messing war es kein Problem, niemand hielt ihn fest oder auf. Als zweites schickte ihn Stalin in die Gosbank auf der Gorkistraße: Dort sollte er sich 100 000 Rubel auszahlen lassen. Zwei KGB-Leute hielten sich unauffällig im Hintergrund. Und Messing bekam das Geld wirklich! Er schob ein leeres Stück Papier unter dem Schalterglas hindurch, der Bankbeamte stempelte es ab, unterschrieb es und zahlte das Geld aus.“

Vieles, was man sich bis heute über Messing erzählt, stammt von ihm selbst. Bereits zu Lebzeiten wurden einige autobiographische Artikel von ihm „Über Mich“ in der Zeitschrift Nauka i Religija (Wissenschaft und Religion) veröffentlicht, auch auf der Bühne gab er hin und wieder Kostproben seiner Abenteuer zum Besten. Im belagerten Leningrad will er der Blockade entkommen sein, indem er im Schutze der Dunkelheit einen sowjetischen Panzer durch die feindlichen Linien führte. Die deutschen Soldaten sah er dabei mit verschlossenen Augen und fand so einen sicheren Weg durch die Nacht. Stalin war angeblich von diesem Meisterstück so beeindruckt, dass er Messing regelmäßig zum weiteren Kriegsverlauf befragte. Bezeichnenderweise erwähnte dieser seine Audienzen beim Diktator erst Jahre nach dessen Tod.

Da war Messing bereits sowjetischer Staatsbürger und bekam seine Auftritte über die Künstlervermittlung. Doch so ganz genehm war dem Kreml der Hokuspokus nicht. Ein Magier und Gedankenleser erfreute zwar die Massen, der Hauch des Übernatürlichen war aber nur schwer mit dem Weltbild des Kommunismus zu vereinbaren. Um nicht als Zauberer durchzugehen, bekam Messing die Auflage, vor jedem Auftritt eine Erklärung zu verlesen, dass sich alle Nummern mit Physik und trockener Naturwissenschaft vollständig erklären ließen.

Anfangs noch eingebunden in ein Abendprogramm neben verschiedenen anderen Künstlern, war Messing bald so populär, dass er alleine auftrat, von Stadt zu Stadt tourte und nicht selten mehrere Abende ausverkaufte Säle begeisterte. Die Moskauerin Ludmila Iwanowna erinnert sich noch genau an eine dieser Vorstellungen: „Er stand im Scheinwerferlicht und verlangte absolute Ruhe. Dann holte er sich Freiwillige auf die Bühne, um sie zu hypnotisieren. Er hat sie ihre Hände falten lassen, die Finger ineinander verschränkt. Aus der Hypnose erwacht, war es ihnen unmöglich, die Hände voneinander zu lösen, sie waren wie zusammengewachsen.“ Anderen sei Hitze suggeriert worden, „sie haben auf der Bühne tatsächlich angefangen zu schwitzen und sogar die Hemden ausgezogen“. Um sich abzukühlen, hätten sie an einem imaginären Eis geleckt und seien über einen sommerlichen See gerudert. Höhepunkt der Hypnose war jedoch die so genannte Katalepsie, ein Zustand, in dem sich der Körper so sehr anspannt, dass die Testperson steif wie ein Brett über zwei Stuhllehnen gelegt werden konnte. Nur die Fersen und der Nacken waren abgestützt. Auf dem versteinerten Körper stehend, ließ sich Messing vom Publikum feiern.

Doch Hypnotiseure seines Schlages gab es einige in der Sowjetunion. Zur Sensation wurde Messing erst durch das bühnenwirksame „Gedankenlesen“, es hat seinen Ruhm als Ausnahmeerscheinung begründet. Ludmila Iwanowna erzählt, was dabei passierte:„Er gab einem Zuschauer aus dem Publikum den Auftrag, irgendetwas zu verstecken, eine Uhr oder einen Ring. Dann nahm er das Handgelenk der Person, legte die Finger darauf, ließ sich so durch Gedankenlesen zu dem Versteck führen und erriet den Gegenstand.“ Der vor dem Auftritt verlesene Text sprach von „ideomotorischen Taten“ – der entsprechende Zuschauer kann nicht verhindern, dass er die Richtung des von ihm versteckten Gegenstandes durch minimale unbewusste Bewegungen verrät. Wenn Messing diese Bewegungen über das Handgelenk erfassen konnte, wusste er, wohin er zu gehen hatte. Wie er allerdings erriet, was für ein Gegenstand es war, den er aufzuspüren hatte, lässt sich weitaus schwerer erklären. Wer an übernatürliche Fähigkeiten glaubt, fühlt sich bestätigt. Oder war Messing dann doch ein früher David Copperfield, der sich auf Illusionen verstand wie kaum ein anderer? Seine Gedanken hat offenbar niemand zu lesen vermocht. Und so gibt der Magier auch heute noch, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, Rätsel auf. Ihm hätte das sicher gefallen.

Wow, da bin ich froh, dass da schon jemand genau recherchiert hat und dann auch noch so ausführlich, vielen Dank. Wer weiss ob ich